Whac-A-Wiki

Philipp Allerstorfer

„Whac-A-Mole ist ein Arcade- bzw. ein Computerspiel und Spielzeug, in dem Maulwürfe, die aus Löchern hervorkommen, mittels eines Hammers oder Tasten zurück in die Löcher geschlagen werden müssen.“ – das besagt der zugehörige Wikipedia-Artikel [Q1] und wenn man dem Journalisten und Wikipedia-Admin Kilian Froitzhuber glauben darf, beschreibt das eigentlich auch Wikipedia selbst. Doch dazu später mehr.

PR-Berater, Narzissten, Querulanten

Was in der wohl umfangreichsten und meistgelesenen Enzyklopädie der Welt niedergeschrieben wird, wird von großen Teilen der Öffentlichkeit auch für wahr gehalten. Die dortigen Beiträge werden später vielfach ungeprüft übernommen. An diesen mitwirken kann bei Wikipedia im Grunde jeder. Eine Erfolgsgeschichte mit Stoff für Konflikte und Kritik. Durch die Möglichkeit für jedermann, eigene Inhalte beizutragen, schafft Wikipedia einen großen Anreiz, sich zu beteiligen. Zugleich ist dieses Modell der Koautorenschaft jedoch höchst kontroversiell. So zeigt der Editierverlauf einiger Artikel ein langwieriges, wechselseitiges Bearbeiten entsprechend der unterschiedlichen Blickwinkel der Autoren. In hunderten Revisionen wurden etwa die Herkunft des Caesar Salad oder die Abstammung Freddie Mercurys von mehreren Autoren angefochten, diesen sogenannten Edit Wars widmet Wikipedia inzwischen sogar einen eigenen Artikel. Andere geben sich zwar weniger hartnäckig, aber auch ihre Beiträge sind nicht unbedingt immer eine Bereicherung für die Online-Enzyklopädie. Sie nutzen die Möglichkeit der Partizipation, um sich selbst in ein besseres Licht zu setzen, von der No-Name-Band bis hin zum eigenen Blog oder YouTube-Channel – nichts scheint unwichtig genug, um keinen Wikipedia-Artikel zu verdienen. Wieder andere nutzen Wikipedia, um ihre eigene Meinung zu publizieren, anstatt einen möglichst objektiven Beitrag zu verfassen, nicht selten in Form von Beschimpfungen oder Diffamierungen, wie im Fall des Journalisten John Seigenthaler, der in seiner Wikipedia-Biografie über Monate hinweg als Kennedy-Attentäter geführt wurde [Q2].

Zugleich ist Wikipedia, als eine der wichtigsten Informationsquellen überhaupt, auch „Angriffen“ der PR-Industrie ausgesetzt. In der Vergangenheit haben bereits viele Unternehmen versucht, ihre eigenen Artikel zu beschönigen, darunter auch namhafte Großunternehmen. Anhand der IP-Adresse ließen sich diese Manipulationen in vielen Fällen zum Firmensitz zurückverfolgen. Mittlerweile gibt es auch darauf spezialisierte PR-Agenturen, die kritische Textpassagen über ihre Auftraggeber entfernen oder vermehrt positive Aspekte einarbeiten. Diese agieren trickreich, wie zum Beispiel durch die Nutzung zahlreicher Accounts, die zwecks Löschung unternehmenskritischer Inhalte langwierige Scheindiskussionen führen.

Admins, Kontrollmechanismen, Guidelines

Die Metapher des Arkadenspiels, in dem die Maulwürfe unentwegt aus ihren Löchern kommen, scheint also nicht ganz ungerechtfertigt. Man erkennt, dass ein kollaboratives Projekt wie Wikipedia Regeln braucht, sowohl für die Autoren als auch für jene, die deren Einhaltung durchsetzen sollen. Dies erkannte auch der Kern der Wikipedianer und setzte in den vergangenen zehn Jahren eine Reihe von automatisierten Kontrollen, ergänzt durch ein umfassendes Regelwerk, um. Die oberste Kontroll- und Entscheidungsinstanz bilden die Admins. Im deutschsprachigen Raum tragen diese Bezeichnung 281 User, die als moderne Gatekeeper und Redakteure der umfangreichsten Enzyklopädie der Welt fungieren. 281 Meinungsbildner, für die sich die meisten von uns vermutlich recht wenig interessieren. Laut Wikipedia sind es „normale Benutzer, denen das Vertrauen entgegengebracht wird, mit ihren zusätzlichen Werkzeugen im Sinne der Wikipedia Grundprinzipien zu handeln und dabei ihre eigenen Interessen und Standpunkte zurückzustellen“ [Q3]. Diese Werkzeuge erlauben es ihnen, Seiten zu löschen oder zu schützen und andere User aus der Wikipedia auszusperren. Die FAZ [Q4] resümiert, man „könnte diese Verwalter des Wissens als mächtigste Unbekannte Deutschlands bezeichnen. Sie gestalten die Meinung und das Weltbild von Millionen von Menschen“. Die Welt wiederum [Q5] zitiert den Autor des Buches Wikipedia Inside mit seiner These einer „Herrschaft der Administratoren“ über die einst demokratische Wikipedia, die nach „Gutsherrenart“ agieren und regieren würden. Im Gegensatz dazu beschreibt der ARD [Q6] die Admins der deutschen Wikipedia wiederum als Bastion gegen die PR-Industrie.

Daten einer Befragung der Europa-Universität in Frankfurt geben uns Aufschluss darüber, welche Personen hinter den deutschsprachigen Admins stecken. Befragt wurden 261 der 281 Admins mit einer Rücklaufquote von 21 Prozent. Die überwiegende Mehrheit der 58 Antwortenden ist männlich, politisch eher dem linken und liberalen Spektrum zuzuordnen und durchschnittlich etwa 44 Jahre alt. Ihre Motive, Admin zu werden, sind vielfältig, etwa um „Unsinn aus Wikipedia herauszuhalten“, weil das „Projekt am Herzen“ liegt, oder aus „Pflichtgefühl, Eitelkeit“. Die Wikipedia-eigenen Daten zu Aktionen von Usern im Adminstatus zeigen allerdings deutlich, dass es sich bei den Gatekeepern nicht wirklich um 281 aktive Personen handelt. Etwa ein Drittel aller Aktionen im Analysezeitraum 1. Jänner bis 5. April 2015 wurde von lediglich fünf Usern gesetzt [Q7] – ein beträchtliches persönliches Engagement und ein großer Einfluss dieser weitgehend Unbekannten:

whac_a_wiki_01

Soziologe Christian Stegbauer bezeichnet diese Verteilung, welche bei Autoren nicht unähnlich ist, als „eine Art Oligarchie“, zu der sich die ursprünglich demokratische Idee von Wikipedia entwickelt hat: „Relativ wenige Personen sind engagiert und tragen Verantwortung“ [Q5]. Im Mittelwert „administrieren“ sie laut eigener Aussage 93 Minuten am Tag [Q8] – also ein nicht zu verachtender unbezahlter Dienst am Wiki.

Whac-A-Mole

PR-Berater, Narzissten, Querulanten auf der einen Seite, Admins und ihre Tools auf der anderen. Was sie spielen, beschrieb ein Wikipedia-Admin und Autor der Süddeutschen Zeitung im Selbstportrait als fortwährendes Whac-A-Mole – das Spiel, bei dem man auf immer wieder an unterschiedlichen Stellen auftauchende Maulwürfe hämmert [Q9]. Sieht man sich den von ihm beschriebenen Rhythmus neu auftauchender Unsinnsartikel und deren Löschung an, erscheint die Metapher nicht unpassend. Im Schnitt eineinhalb Stunden am Tag treibt eine Hand voll Admins die vermeintlichen Trolle zurück in ihre Löcher. Würde man die Welt in schwarz und weiß unterteilen, wäre beides somit bestens definiert. Leider fehlt in dieser Gleichung noch der „normale“ Autor, welcher schnell die Lust verliert, im Maulwurfskostüm zu hoffen, nicht vom Hammer getroffen zu werden. Kurz gesagt: Die Lust am Schreiben schwindet. Das macht sich in der seit Jahren schwindenden Autorenzahl deutlich bemerkbar. In dieser schwarz-weißen Welt fehlt zudem das wohl brisanteste Diskussionsthema: das der Relevanz. Ob ein Thema die nötige Relevanz für einen eigenen Artikel aufweist, liegt häufig im Ermessen des ersten Admins, der über diesen neuen Artikel urteilt. Die Entscheidung fällt daraufhin meist in der Zeitspanne eines Hammerschlags und trifft den Autor oft mit selbiger Wucht, ohne Möglichkeiten zur Nachbesserung. Doch wer mangels Mitstreiter täglich für eineinhalb Stunden der eigenen Freizeit den Hammer schwingen muss, kann sich natürlich auch nur schwer in jede „Löschdiskussion“ vertiefen. Ein Teufelskreis, der Autoren und Admins wohl gleichermaßen frustriert.

Doch so unperfekt die Wikipedia-Welt ist, so eindrucksvoll ist sie. Mit Wikipedia ist etwas entstanden, was Wired zurecht als die masterclass in digital democracy [Q10] bezeichnet. Denn Wikipedia ist mehr als nur ein Beispiel für breite Partizipation mit einem – zumindest in der Theorie – konsensualen Gesamtergebnis. Die Wikipedianer haben ihre Regeln und Strukturen selbst und gemeinsam geschaffen und vermögen es, diese, wenn nötig, auch selbst zu reformieren. An Wikipedia kann man sehen, dass eine Demokratie, die Partizipation fördert, auch Störenfriede nicht verhindern kann. Vor allem aber sieht man, wie sich der Umgang mit diesen auf die Zukunft der Gemeinschaft auswirkt. Man sieht auch, dass Partizipation nicht immer in perfekter Ordnung verläuft, aber sie ist möglich und das Web dafür ein geeignetes Medium. So wurde von den Wikipedianern bereits Beachtliches erreicht und je mehr sich aktiv auf allen Ebenen dafür interessieren und daran beteiligen wollen, umso besser funktioniert Demokratie und umso besser funktioniert das demokratiepolitische Experiment Wikipedia.

Quellen:
[Q1]: Wikipedia (2015)
[Q2]: USA Today (2005)
[Q3]: Wikipedia (2015) – Administratoren
[Q4]: Frankfurter Allgemeine Zeitung (2015) – Die Lotsen bleiben an Bord
[Q5]: Welt (2015) – Über Wikipedia herrschen jetzt die Administratoren
[Q6]: ARD (2015) – Youtube
[Q7]: Wikipedia (2015)
[Q8]: Wikipedia (2015) – Wp-Admin Umfrage von Wiki Watch
[Q9]: Süddeutsche Zeitung (2014) – Ein Tag im Leben eines Wikipedia Waechters
[Q10]: Wired [2014] – Digital Democracy

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