Wir sagen über uns mit Stolz, dass wir in einer Wissensgesellschaft leben. Heutzutage haben mehr Menschen als jemals zuvor Zugang zu Wissen und Bildung. Doch welchen Einfluss hat die digitale Revolution auf uns selbst und unser Verständnis von Wissen? Dieser Beitrag beleuchtet und analysiert aktuelle Positionen bedeutender Meinungsträger der Bereiche Philosophie, Soziologie und Kulturtheorie zu den Themen Digitalisierung des Wissens und dessen Einfluss auf die Gesellschaft. Im Burgtheater in Wien wurde unter dem Titel „Die Zerstörung des Wissens?“ eine Matinee im Programm „Europa im Diskurs – Debating Europe“ veranstaltet, bei der von den Diskussionsteilnehmern versucht wurde das Thema aus der Perspektive unterschiedlicher, wissenschaftlicher Disziplinen auf eine allgemeine, philosophische Ebene zu heben. Nun was ist eigentlich eine Wissensgesellschaft und warum zerbrechen sich die Wissenschaftler den Kopf darüber?
Wissensgesellschaft
Für den Begriff der Wissensgesellschaft gibt es viele Definitionen und es ist oft nicht klar, was darunter verstanden wird. Ich stelle die Wikipedia-Definition an den Beginn meiner Überlegungen, weil sie wahrscheinlich die am häufigsten gelesene ist und damit genau auch die Problematik der Verwendung des Begriffs deutlich macht. Laut Wikipedia bezeichnet eine „Wissensgesellschaft“ eine Gesellschaftsformation in hochentwickelten Ländern, in der individuelles und kollektives Wissen und seine Organisation vermehrt zur Grundlage des sozialen und ökonomischen Zusammenlebens wird“. Diese Definition macht die hochentwickelten Länder zur Elite der Menschen, die „schlauer und vernünftiger“ als die Anderen sind. Aber ist das nicht problematisch? Ist jemand, der zur Wissensgesellschaft zählt, deswegen schon als „homo superior“ zu betrachten?
Die Frage, ob wir derzeit in den modernen Industriegesellschaften tatsächlich in “Wissensgesellschaften” leben, ist umstritten. Der Begriff ist ein Label, welches die Gesamtgesellschaft durch ein einziges Merkmal zu charakterisieren versucht „Wir sprechen nicht von einer Wissensgesellschaft, weil wir alles wissen, sondern weil wir erkennen, dass der Umgang mit Wissen das entscheidende Produktionsmittel in dieser Gesellschaft geworden ist“, so Armin Nassehi, Wissenssoziologe an der Universität München (Der Standard). Diesen Gedanken ergänzt der Philosoph Konrad Paul Liessmannin seinem Buch „Theorie der Unbildung“ indem er versucht nachzuweisen, dass die Wissensgesellschaft keine besonders kluge Gesellschaft sei. Sie hat seiner Meinung nach, auch nicht so viel mit dem Verstehen des Wissens zu tun. Irrtümer, Fehler, Kurzsichtigkeit oder Aggressivität seien dabei in der neuen Gesellschaft nicht weniger vorhanden, als in anderen Gesellschaften. In einem sind sich die beiden aber einig: es ist sehr fragwürdig über eine „Wissensgesellschaft“ zu sprechen, denn zwar steht uns heute theoretisch viel neues Wissen zur Verfügung, aber ohne ausreichende (Vor-)Bildung kann die überwiegende Mehrheit der digitalen Wissenskonsumenten mit diesem Wissen nicht viel anfangen.
Laut Liessmann ist die Wissensgesellschaft weder ein Novum noch löst sie die Industriegesellschaft ab, sondern es ist das Wissen, das industrialisiert wird, indem es in Technologien und damit in der ökonomischen Verwertbarkeit transformiert wird. Eine zentrale These der Informationsgesellschaften ist laut Manuel Castells, dass bei der Produktion von Informationstechnologie, menschlicher Verstand, nicht nur ein entscheidendes Element im Produktionssystem ist, sondern auch zur Produktivkraft wird. Die Kommunikationsrevolution benötigt demnach keine Rohstoffe mehr, sondern ihr Rohstoff ist Information. Es gibt aber einen feinen Unterschied zwischen Wissen und Information: Informationen muss man im Bezug auf andere Informationen interpretieren, damit sie bei einer Konsistenz das wahre Wissen zeigen (Jörg Friedrich). Wissen bedeutet daher mehr als das Sammeln von Information: die Welt erkennen, verstehen und begreifen.
Die „Fragwürdigkeit“ des Begriffs Wissensgesellschaft argumentiert Nassehiaußerdem damit, dass wir anstatt des Wissens selbst, die Sicherheit die wir von Wissen erwarten, zerstören. Die Zerstörung des alten Wissens ist aber ein unbedingt notwendiger Prozess, um neues Wissen herstellen zu können und damit auch eine neue Gesellschaft aufzubauen. Wenn wir jedoch nur die Sicherheit die wir vom Wissen erwarten zerstören, legen wir keine neue Wissensbasis.
Zu dieser Aussage passt eine Beobachtung von Konrad Paul Liessmann. Nach Liessmann ist es heutzutage merkwürdig, dass Wissen als Gegenstand der gesellschaftlichen Achtung an Bedeutung verliert und das Erkenntnisstreben abnimmt. Das ist vielleicht eine zu radikale Aussage. Ich denke nicht, dass wir gar nicht oder weniger als unsere Großeltern nach Wissen streben, aber ohne Zweifel sind manche Menschen davon überzeugt, Wissen einfach per Mausklick aus dem Netz holen zu können. Das hat ambivalente Konsequenzen. Dank einer Vernetzung von Informationen und einem einfachen Zugang zu denen werden wir einerseits faul, andererseits können wir viel schneller Informationen zum Aufbau des notwendigen Wissens sammeln. Ich glaube aber nicht, dass der Mausklick uns fauler macht. Mein Eindruck ist nur, dass wir uns für anderes Wissen interessieren wie die Generationen vor uns. Da in der Vergangenheit schon so viel Wissen akkumuliert wurde, richten wir unser Interesse viel stärker auf Zukunftstechnologien für die das alte Wissen keine so große Rolle spielt. Eines der wichtigsten Ziele dieser Zukunftstechnologien ist die Verbesserung unseres Alltags, wofür nicht unbedingt, „altes“, ursprünglichen Wissen notwendig ist, sofern es sich nicht um Informationen handelt auf denen heutige Techniken ohnehin aufbauen.
Distribution des Wissens
Wissen ist dynamisch. Lawrence Lessig (Rechtsprofessor, Mitbegründer von „Creative Commons“) sagte sogar „was wir heute für gesichertes Wissen halten, würden in der Zukunft unsere Enkel nur lächerlich finden“. Wir können aber nicht vermuten, dass deren Wissen weniger lächerlich würde. Was unser Wissen von dem der Anderen unterscheidet ist dessen Digitalisierung. Heute ist die Welt unglaublich komplex. Wir haben Zugang zu Informationen wie nie zuvor. Das Paradoxon liegt in der Tatsache, dass man heute auch viel mehr Informationen braucht, um die richtige Entscheidung zu treffen, schreibt Jörg Friedrich in seinem Buch „Kritik der vernetzten Vernunft“. Die richtigen Informationen müssen aber aus der digitalen Datenflut mühsam herausgefiltert werden, aufgrund ihrer Vielfalt und Kurzfristigkeit scheinen sie nicht vergleichbar zu sein und dadurch auch kein konkretes Wissen mehr zu liefern (Liessmann). „Der traditionelle Prozess von Qualitätssicherung gewährleistet eine Kontinuität wissenschaftlichen Fortschritts“ sagte in einer Diskussion zum Thema „Was man weiß und was man lieber vergessen soll“ Sara Miller McCune,die Gründerin der SAGE Publications (Der Standard). Ihrer Meinung nach ist Qualitätssicherung, die Informationen in das Netz zu stellen, für viele Leute kein wichtiges Anliegen mehr und das trotz der Tatsache, dass seriöse Quellen im Internet immer noch gefragt sind.
Vielleicht ist es besser die Kritik über die Epoche der Unbildung wirklich ernst zu nehmen und unsere Gesellschaft statt Informations- „Desinformationsgesellschaft“ zu nennen? – und zwar wegen des Inputs.
Vernetzte Vernunft
Jörg Friedrichunternimmt den Versuch, die neue Gesellschaft und deren Wissen zu beschreiben. In seinem Buch verwendet er die Begriffe „vernetzte Vernunft“ und „technische Vernunft“ zur Charakterisierung unserer Gesellschaft. Unter Technik versteht er nicht nur Geräte und Software, sondern auch die Verfahren. So schreibt er, dass Technik und Kultur zusammengehören, da Kultur die beherrschbare Realität ist, alle Kultur aus Technik besteht und das, was wir Technik nennen, durch Kultur erst entstehen kann. Es gehört also zu der menschlichen Natur der Technik zu vertrauen und deren Informationen als primäre wahrzunehmen. Die „technische Vernunft“ verfolgt die Netzwerkstrukturen. Unser Wissen besteht heute öfter aus Gewissheiten, also daraus, wessen wir gewiss sind (was uns gelehrt wurde) statt aus eigenen Erfahrungen. Das Netz strukturiert so die Informationen, die wir über andere Menschen und Sachen erhalten. Was wir Wissen nennen, sind die individuellen Überzeugungen und die darauf basierende Erschaffung einer individuellen Realität. Nassehi sagt, dass wir in unserer Erkenntnis und Wahrnehmung viel stärker von einem Wissen geleitet sind, als wir das wirklich wissen.
Das war früher aber nicht anders. Auch in der Vergangenheit folgten viele Menschen einem „regionalen“, kulturellen Schema. Das, was uns gelehrt wurde, war nichts anders als stark geprägte Meinungen, welche man schwer in reflektiertes Wissen umwandeln konnte, da der Zugang zu Informationen, welche als Vergleichsdaten dienen könnten, sehr beschränkt war. Betrachten wir das Mittelalter am Übergang zur Neuzeit, dann könnte man argumentieren, dass neue Entdeckungen an sich noch keinen großen, technischen oder wissenschaftlichen Boom auslösen, sondern erst in der Vernetzung derselben an Einfluss gewinnen. Da durch Verbesserung der Kommunikationssysteme ein freierer Zugang zu Informationen möglich wurde, kann man gegenwärtig beobachten, dass Intensität und Geschwindigkeit der Einflussnahme einzelner Wissensproduktionen zunimmt.
Warum Unbildung?
In seiner Kritik an neuen Bildungssystemen macht Liessmann darauf aufmerksam, dass wir unser Wissen selbst einschränken, indem wir die Informationen ohne Zusammenhang mit deren Genese und dem Kontext interpretieren wollen. „Wissensgesellschaft“ muss das Lernen selbst schätzen lernen, sonst kann sie sich nicht weiterentwickeln. Weil unser Wissen nicht sicher ist, kommt es zu Unbildung im Sinn von zu wenig Wissen, was zu Stereotypen, nicht genug argumentierten Vorurteilen und Irrationalismus führt. Was er Unbildung nennt ist eben nicht das fehlende Wissen oder Dummheit, sondern die Abwesenheit des Strebens nach Wissen, das schon Aristoteles allen Menschen zugeschrieben hat. Der Umgang mit Wissen (Informationen) sollen wir während der Bildungszeit lernen, da nur quantitativ gesammeltes Wissen uns nicht zu Gebildeten macht. Demnach wäre ja jedes webbasierte Archiv besonders gebildet, so Nassehi.
Bestimmte Meinungen in der wissenschaftlichen Literatur definieren das „wenig Wissen“ als Unvermögen Informationen korrekt interpretieren und somit unsere Realität begreifen zu können. Jedoch erst wenn viele Gewissheiten zusammentreffen und vergleichbar sind (also nicht nur aus der eigenen Erfahrung), können wir das qualitative Wissen neu strukturieren. Diese Voraussetzung ist aber heute in besonderem Maße gegeben. Wir haben globale Informationsnetzwerke, die es ermöglichen unsere Welt mit einem rasanten Tempo weiter zu entwickeln. Sollen wir dann trotzdem glauben, dass wir heutzutage weniger wissen?
Die analysierte Literatur begegnet der modernen vernetzten Gesellschaft mit einem leicht negativen Unterton, indem die Masse an Informationen selbst als Grund für bestimmte Defizite der Wissensgenerierung dargestellt wird. Meiner Meinung nach werden die negativen Effekte des Halbwissens, die durch oberflächlichen Informationskonsum entstehen, durch die positiven Effekte des erleichterten Wissens- und Meinungsaustausches bei weitem aufgewogen. Der Eindruck, dass Individuen der modernen Gesellschaft teilweise unreflektiertes Wissen aufnehmen ist vermutlich auch in einem veränderten und komplexeren Anforderungsprofil der Wissensaufnahme begründet. Das „Schätzen des Lernens“ würde ich in früheren Zeiten nicht als ausgeprägter auffassen, jedoch war der Zugang zu Wissen eher institutionalisiert und vorstrukturiert. Zusätzliche Evaluation und Selektion, wie es jetzt umfassend notwendig wird, war nicht nötig. Steigt auch somit die Gefahr von falsch ausgewähltem Halbwissen, vermehren sich natürlich auch die Möglichkeiten ungenaue und inkorrekte Informationen zu falsifizieren – sofern man die notwendigen Anforderungen mitbringt.
Externe Speicher
Jörg Friedrich kritisiert in diesem Zusammenhang externe Speicherund stellt die Frage, ob man sich heutzutage wirklich nichts mehr merken muss. Auch er ist der Meinung, dass man um Wissen aufzubauen, Informationen nicht nur sammeln, sondern auch interpretieren können muss, was aber wegen ihrer Vielfalt und Verknüpfungen nicht nur mit rationalen, sondern auch mit emotionalen Aspekten für eine Maschine unmöglich ist. Da wir aus diesem Wissen unsere Realität bauen, gibt es für uns auch eine Menge an Realitäten. Die „vernetzte Vernunft“ ist aber dadurch gekennzeichnet, dass sie diese Realitäten zu einer einzigen zusammenführt und diese idealisiert, sodass ein verfälschtes Bild unserer Realität (gerade im Internet) dargestellt wird. Das Bild bauen wir auch selber, indem wir nur die „besten Exemplare“ im Netz speichern. Deswegen ist es in unserer Zeit sehr wichtig mit den Abweichungen von dem Ideal umgehen zu können und die Grenze unserer Vernunft zu überschreiten, damit wir offen für neue Lösungen bleiben.
Wissen als eine Beschränkung unseres Horizonts?
Dass Wissen unsere Horizonte beschränkt, sagt auch Armin Nassehi. Früher hat man gesagt, wer etwas weiß, dem steht die Welt offen. Heute machen viele Philosophen und Soziologen darauf aufmerksam, dass es auch umgekehrt sein könnte. Unser Wissen ist durch die Konfrontation mit unseren Erwartungen, unserem Wissen als Struktur, die wir im Kopf auch durch soziale Erwartungen bedingt haben, beschränkt. Je genauer wir etwas wissen, desto weniger sind wir dafür offen, die ganzen Umweltreize zu sehen. Die größte Gefahr ist daher das routinierte Wissen. Auch das Bekenntnis zur Unsicherheit unseres Wissens führt zur Beschränkung. Dennoch passiert es immer öfter, dass wir glauben etwas zu wissen, aber dann jemand kommt, der uns sagt, dass die Realität anders ist als wir denken. So stoßen wir auf eine permanente Diskrepanz zwischen unserer Vorstellung und der Welt. Dieses Phänomen kann man darauf zurückführen, dass die Welt früher relativ einfach und überschaubar war, weil Wissen in wesentlich geringerem Ausmaß zur Verfügung stand. Heute ändert sich jedoch alles in einem rasanten Tempo und wir bekommen mit jedem Tag neue Massen von Informationen. Ich denke, dass die von Liessmann kritisierte „Ignoranz“ davon kommt, dass wir diese Massen einfach nicht mehr erfassen können (so werden externe Speicher praktisch). Unsere Gesellschaft fragt auch nach der Zukunft und hat große Lust an neuen Entdeckungen und Innovationen. Das kann man auch in den Medien beobachten. Für unsere Gesellschaft ist es anregend, die Buntheit und Neuheit von Themen zu zeigen. Auch der Erfolg von Fernsehprogrammen wie die „Millionenshow“ deuten darauf, dass wir doch Interesse an Wissen, im Sinn von verschiedenen Informationen zu sammeln, haben. Ein Kritikpunkt besteht darin, dass, um neues Wissen konstruieren zu können, trotzdem das alte Wissen gekannt und beherrscht werden muss, dies in der Gegenwart aber allzu schnell vergessen wird. So zitiert Liessmann in seinem Buch den deutschen Philosophen Theodor W. Adornound schreibt „Mediengesellschaft schafft Halbbildung, in welcher Unverständnis als Argument Gültigkeit hat“. Diese Gedanken entwickelte er weiter und sagte, dass nicht nur das Unverständnis der Informationen, aber vor allem deren Gleichgültigkeit die Gefahr verursacht, dass es schließlich völlig egal ist, was man weiß oder nicht weiß, weil mit etwas Glück immer gut geraten werden kann. Da wir andauernd in Eile sind, beschränken wir uns auf solch erratenes Wissen mit der Hoffnung, dass es „passen“ wird. Ebenso funktionieren Suchmaschinen: es ist nicht klar, ob das, was sie an Ergebnissen liefern in einem sinnvollen Zusammenhang zu den gestellten Fragen stehen. Schade nur, sagt Liessmann, dass der Glaube an die Datenablagerungen auf den Festplatten das Denken ersetzt.
Online-Gesellschaft
Vernetzte Vernunft ist kulturvoll. Die Globalisierung und Vernetzung schaffen einerseits eine neue, globale Kultur, anderseits können sie diese (nämlich die Kultur) wieder zerkleinern. Wir können das ganze Netz nicht „beherrschen“, obwohl wir es selber gebaut haben. Merkwürdig ist, dass auch hier ähnliche Strukturen und Gesetze wie in der realen Welt funktionieren. Die Kommunikationskulturen der sozialen Netzwerke imitieren die Strukturen der regionalen Vereine oder Parteien, wobei sie noch mehr geschlossen sind, da sie die Meinungen von provokant anders denkenden Menschen – sogenannten Trollen – ausschließen, so Friedrich. In der realen Welt basiert zum Beispiel das Handeln von Parteien auf Meinungen von anderen Menschen und Programmen von anderen Parteien, sodass sie ihr eigenes Programm verbessern können und die für sie richtige Strategie wählen. Daher gibt es im Internet das Risiko, sich selbst zu überschätzen, den anderen zu ignorieren und den Bezug zur Wirklichkeit zu verlieren. Online-Gemeinschaften sind deswegen, und auch wegen der technisch bedingten Beschränktheit, selten demokratisch. Weitergehendsieht er sogar den „Blogger als Monarch“ und die „Kommentatoren als die Aristokratie“. Vor allem aber beschränken die technischen Möglichkeiten die Willensbildung und -durchsetzung, welche in der Demokratie so wichtig sind. Kritik an Gruppen, die nur aus Meinungsgenossen und Sympathisanten bestehen, kann man auch außerhalb des Internets finden. Jo Freeman hat 1970 über Organisationsprobleme der Frauenbewegung geschrieben, wo sie darauf aufmerksam machte, dass informelle Gruppen zur Elitenbildung neigen – Teilgruppen übernehmen die Macht über die ganze Gruppe, aber ohne Verantwortung zu tragen, und oft ohne Wissen und Zustimmung der ganzen Gruppe. Internet-Gruppen sind aber ein Phänomen, das teilweise in einer virtuellen Welt funktioniert und Millionen von Benutzern vereinigt. Das, was diese Menschen zusammen halt ist eine Idee und nicht ein Führer, Eliten oder Strukturen. Diese Gruppen funktionieren nach anarchischen Regeln. Sie können kollektive, direkte Aktionen setzen – sogenannte Flashmobs – und bestehen nicht lange, oft nur für einzelne Mobs. Richtungslosigkeit des Netzes durch Autonomie der einzelnen Teilnehmer führt also dazu, dass Web-Organisationen schwer lange zusammenzuhalten sind. Die moderne, freie Gesellschaft arbeitet daran, alle Pflichten aufzuweichen und weniger Vorschriften und Regeln in unserer Welt zu schaffen, so Friedrich. Es ist aber merkwürdig, dass in unserer Gesellschaft so viel über Coaching, Controlling und Monitoring gesprochen wird. Das globale Netz gibt uns die Möglichkeit, gegen moralische Normen zu kämpfen und bessere Lebenskonditionen zu schaffen, indem man auch andere Gruppen/Gesellschaften beobachtet oder sich aktiv in einer Sache engagieren kann. Es gibt aber auch die Möglichkeit, die ganze Gesellschaft besser zu beobachten und strenger zu kontrollieren.
Wissensgesellschaft in der Zukunft
Globalisierung und Vernetzung führen dazu, die Welt aus verschiedenen „Wirklichkeiten“ neu zu bauen. Diese Wirklichkeiten sind bestehende Kulturen, Normen und Realitäten der verschiedenen Menschen und Gesellschaften. Dieser Kulturwandel basiert auf dem Internet und dem Web. Was Nassehi über das Wissen gesagt hat, kann man auch auf Kulturbildung beziehen: die Zerstörung der alten Kultur ist notwendig, um eine neue Kultur herstellen zu können, aber es bleibt immer noch etwas aus den alten Kulturen bestehen. Der erste Schritt dieser Zerstörung lässt sich in dem Verlust der Kommunikationsfähigkeiten in der eigenen Sprache feststellen, da speziell die Fachbegriffe nicht weiterentwickelt werden, schreibt Liessmannund zitiert dazu Nietzsche „Sprache stirb, Kultur stirb“. Es bleiben regionale Dialekte, aber die nationale Sprache wird zu einer internationalen Sprache (Englisch?). Was uns die Globalisierung positives gebracht hat, ist die fortschreitende ökonomische, politische und soziale als auch ökologische Integration, die zur Gleichheit aller Länder führen soll. Würde das gemeinsame Ziel einen „Gemeinsinn“ der neuen Kultur schaffen und uns zur Gleichheit weiterführen, oder werden wir uns wie „anarchische Gruppen“ zu mehreren „individuellen Welten“ gruppieren? Können wir generell über die neue Kultur reden, wenn wir die alte nicht berücksichtigen möchten? Ich bin sicher, dass solche Diskussionen und Gedanken uns viel bringen können, vor allem vielleicht eines Tages zu erkennen, was wir noch alles wissen müssen, bevor wir uns den Wunsch auf ein besseres Morgen erfüllen können.
Meinungen, Zitate:
Konrad Paul Liessmann „Theorie der Unbildung“; Auflage Dezember 2012
Jörg Friedrich „Kritik der vernetzten Vernunft“; 1. Auflage 2012
Der Standard „Was man weiß und was man lieber vergessen soll“; 5. April 2014
Der Standard „Wissen schränkt unseren Horizont ein“; 6. April 2014
Jo Freeman Artikel „The Tyranny of Structurelessness“
Malgorzata Skoczynska „Eigene Gedanken zum Vortrag über Informationszeitalter und Netculture“
Malgorzata Skoczynska „Eigene Gedanken zu den Vorträgen über Internet-Gruppen“
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