Soziale Netzwerke wie Facebook und Twitter werden oft einfach als Websites beschrieben, auf denen Personen Profile erstellen und diese Profile miteinander verbinden können, um persönliche Netzwerke zu erschaffen. Bis in das Jahr 2015 hat sich diese Definition jedoch weiterentwickelt, ebenso wie deren Nutzer. So haben diese Kanäle durch ihre Infrastruktur und Mechanismen die Zugangsbarrieren zur Erstellung und Verbreitung von Inhalten gesenkt und werden von Personen mit speziell entwickelten Strategien maximal ausgenutzt, um Ideen und Informationen mit anderen Personen zu teilen. Dieses Teilen begrenzt sich in der heutigen Zeit nicht mehr auf persönliche Netzwerke, sondern umfasst ebenso uns völlig unbekannte Personen. Dabei entsteht ein Kampf um Aufmerksamkeit, der oft nicht nur von jenen gewonnen wird, die etwa den interessantesten oder neuesten Inhalt anbieten, sondern von denen, die die Mechanismen dieser Dienste, wie beispielsweise Hashtags, am besten ausnutzen.
In Bezug auf diese Handhabung von sozialen Netzwerken hat eine Gruppierung besonders viel Aufmerksamkeit auf sich gezogen: Dschihadisten. Diese versuchen mittels Twitter und anderen Social-Media-Kanälen ihre Ideologie zu verbreiten und alte sowie neue Anhänger um sich zu versammeln. Ihre erfolgreiche Verwendung sozialer Medien wurde selbst in den Mainstream-Medien häufig diskutiert und wirft einige Fragen sowie Herausforderungen für das Web und dessen Nutzer auf. Der offensichtlichste Grund für diese Wahl ist, dass jene Dienste, die von Twitter zur Verfügung gestellt werden, grundsätzlich für alle Personen, die einen Internetzugang besitzen, frei zugänglich sind. Daher kann jeder schnell, unkompliziert und kostenlos sowie von der Muttersprache unabhängig ein Profil anlegen. Weiters ist durch die Tatsache, dass Twitter bereits ein weit verbreiteter und akzeptierter Dienst ist, die Erreichbarkeit von anderen Personen weitaus höher als etwa in geschlossenen Foren, die bisher genutzt wurden. So ist die Hürde, eine kostengünstige Plattform zur Verfügung zu stellen, um eine Botschaft oder Idee mit anderen Personen zu teilen, ohne großen Aufwand bereits überwunden. Diese Gründe sind natürlich auch den Dschihadisten und deren Unterstützern bekannt und sie selbst empfehlen Twitter als Kommunikationskanal an ihre Community und rufen dazu auf, den Dienst zu verwenden.
Viele Accounts sind eher allgemein rund um das Thema Islam und den Dschihad gehalten, während sich einige wenige auf einen Aspekt, wie etwa auf das Leben im Islam oder auf religiöse Debatten, spezialisiert haben. Eine Gemeinsamkeit der Accounts ist, dass immer wieder darauf hingewiesen wird, dass nur sie und die Anhänger des Dschihad den „richtigen Islam“ darstellen und Medien, besonders westliche, den Islam und Dschihad falsch zeigen. Bevorzugt wird der Islam mit dem Leben in den USA und England verglichen und erklärt, warum dieses Leben besser ist als das Westliche. Weiters werden beständig Zitate aus dem Koran, Weisheiten sowie Hinweise und Richtlinien zum Thema Leben als „guter und richtiger“ Muslim gepostet. Diese Vergleiche, Zitate etc. kommen sowohl in schriftlicher als auch visueller Form (Bild und Video) vor. Große inhaltliche Unterschiede sind also weniger zu finden als unterschiedliche Herangehensweisen, wie Botschaften und Nachrichten verpackt und gepostet werden:
- Die erste Gruppe umfasst Accounts von Personen, die eine Art Prediger oder auch Führungsperson mit vielen Anhängern darstellt (siehe @Abu_Baraal). Diese posten viele YouTube-Videos, in denen sie oft selbst zu sehen sind und über den Islam und den Dschihad sprechen, sowie Links zu Facebook-Gruppen, mit denen zu Diskussionen über den Islam eingeladen werden soll.
- Die zweite Gruppe besteht hauptsächlich aus offiziellen sowie inoffiziellen Berichterstattern oder Journalisten, die über die Kämpfe und das Leben in den vom IS besetzten bzw. stark vom Islam geprägten Gebieten twittern, um ein möglichst positives Bild vom Dschihad nach außen zu tragen (siehe @JihadNews14). Auf diesen Accounts sind viele Fotos zu finden, um die geposteten Aussagen visuell zu unterstützen.
- Die dritte Gruppe setzt sich aus den Unterstützern des Dschihad zusammen, die mehr oder weniger normale Twitter-User sind und sich dem Dschihad zugehörig fühlen, ähnlich wie Fans bestimmter Gruppen und Hobbys (siehe @Jihad_princess).
- Die vierte und letzte Gruppe sind Accounts, die aktiv versuchen, andere Personen für den Dschihad zu rekrutieren. Der Umfang dieser Accounts reicht von ständigen Aufrufen an Männer, in den Dschihad zu ziehen, bis hin zu Accounts, die versuchen, Frauen zu bewegen, zum Islam zu konvertieren und einen streng muslimischen Mann zu heiraten (siehe @JihadMatchmaker).
Besonders auffallend ist auf diesen Accounts die zusätzliche Verwendung von Memes (virales Internetphänomen im Social Web) und Katzenbildern, die entweder ebenfalls gezielt der Propaganda dienen und besonders die junge Internetgeneration ansprechen sollen. Oder es könnte einfach als Indikator dafür gelten, dass Internethumor universell über alle Kulturen und Religionen hinweg von Personen angenommen und verwendet wird.
Hashtags selbst werden von den untersuchten Accounts eher weniger bis gar nicht verwendet, was etwas verwunderlich wirkt, da Hashtags normalerweise verwendet werden, um Informationen ebenso wie Propaganda schnell verbreiten zu können. Die Themenbereiche der Hashtags sowie Top-Schlagwörter, die in Tweets verwendet werden, umfassen hauptsächlich Islam, Dschihad und vom Islam geprägte Staaten. Auffallende Hashtags sind zusätzlich #terrorist und #persecution sowie spezielle Hashtags wie #tcot (Top Conservatives on Twitter), #jcot (Jewish Conservatives on Twitter), #bcot (Black Conservatives on Twitter), #teaparty und ähnliche Begriffe. Prinzipiell umfassen diese Hashtags also alle wichtigen Religionen in Verbindung mit konservativen, politischen Parteien und Gruppierungen auf Twitter, in denen vorrangig die US-Politik und religionsbezogene Themen diskutiert und geteilt werden. Die Verbindung dieser Gruppierungen zu den untersuchten Accounts könnte darin bestehen, dass beide die derzeitige Politik der USA bzw. des Westens stark kritisieren und einen Richtungswechsel fordern. Es wird sozusagen auf die gleichen Ziele hingearbeitet, obwohl es sich um unterschiedliche Gruppierungen handelt.
Die Reaktionen in Bezug auf Accounts von Dschihadisten und deren Unterstützer fallen beim Unternehmen Twitter ebenso wie bei den Twitter-Nutzern ziemlich ähnlich aus. So wird Twitter selbst tätig und sperrt aktiv Accounts, wobei bei diesen Sperren kein offensichtliches System zu erkennen ist. Zum Beispiel sind viele Accounts mit Bildern von von Dschihadisten getöteten Personen noch immer aktiv, während andere, darunter auch Satire-Accounts, regelmäßig gesperrt werden. Wie erfolgreich diese Vorgehensweise ist, bleibt weiterhin fraglich, da nach einer Sperrung einfach ein neuer Account angelegt werden kann. Weiters ist anzumerken, dass Twitter grundsätzlich immer die gesamten Accounts sperrt und löscht und nicht einzelne Tweets oder Nachrichten zensuriert. Um Twitter zusätzlich zu unterstützen, haben sich einige Gruppen auf Twitter organisiert, die gezielt einschlägige Accounts melden, damit diese aufgrund der großen Menge an Meldungen dann von Twitter untersucht und eventuell gesperrt werden können.
Ebenso wie diese unterstützenden Gruppen bilden sich zudem spezielle Accounts, um vor den Gefahren des Dschihad zu warnen und darüber mit einer Art Gegenkampagne aufzuklären. Besonders erwähnenswert ist hier der Account der US-Regierung @ThinkAgain_DOS, der speziell über islamischen Terrorismus und dessen Auswirkungen berichtet und an Personen appelliert, die selbst in den Dschihad ziehen wollen, nochmals über ihr Vorhaben nachzudenken. Darüber hinaus versuchen auch einige Personen, Diskussionen mittels Humor und Satire anzuregen, wie etwa der Satire-Account @JihadistJoe. Diese können jedoch sehr von schwarzem Humor geprägt sein und es wurde schon mehrmals das Argument hervorgehoben, dass diese Art von Accounts sich nicht nur über Dschihadisten und Extremismus lustig macht, sondern auch über normale Muslime. Dies hat zur Folge, dass derartige Accounts von vielen Personen gemeldet und gesperrt werden. @JihadistJoe beispielsweise, wurde im Dezember 2014 aufgrund einer Vielzahl solcher Meldungen für kurze Zeit gesperrt.
Insgesamt ist zu sehen, dass eher wenige Personen direkt mit Accounts der Dschihadisten in Kontakt treten und diese in ihren Tweets erwähnen. Twitter-Nutzer bleiben hier lieber in ihrem eigenen Netzwerk, sprechen dort über das Thema Dschihad und beteiligen sich etwa an den organisierten Gruppen zur Meldung gewisser Accounts, suchen aber keine direkte Konfrontation, mit Ausnahme der Satire-Accounts und Accounts der US-Regierung.
Conclusio
Grundsätzlich verhalten sich Dschihadisten auf Twitter großteils wie andere Personen und nutzen den Dienst und dessen Infrastruktur für sich und ihre Zwecke – wie andere Twitter-Nutzer und Organisationen. Auf der anderen Seite betreiben sie klassische Propaganda mit Bildern, Videos etc., die durch die erhöhte Reichweite und Unkontrollierbarkeit von Twitter und allgemein von Inhalten im Web eine leichte und schnelle Verbreitung findet und schlussendlich mit Berichten über dieses Vorgehen ebenfalls in den klassischen Mainstream-Medien landet. Hierbei kann die Frage gestellt werden, ob diese rasante Verbreitung der Dschihadisten-Accounts und deren Inhalten ausschließlich durch Twitter und andere Social-Media-Kanäle stattgefunden hat oder ob die stetige Behandlung dieses Problems durch die Mainstream-Medien dabei half. So bezieht nach wie vor eine große Anzahl an Personen ihre Nachrichten über Mainstream-Medien und gelangt daher oft auf Seiten – oder wie in diesem Fall auf Twitter-Profile – die sie ohne diese Nachrichten nur schwer gefunden hätte. Speziell auch deswegen, weil sich die meisten Internetnutzer aufgrund von Web-Personalisierung und Tracking nur in ihrer auf sie und ihre Hobbys und Interessen zugeschnittenen Informationsblase bewegen, aus der sie nur schwer herauskommen.
Ein anderes Thema ist, wie mit diesen Accounts und deren Inhalten umgegangen wird und ob dieser Umgang negative und/oder positive Auswirkungen hat. So wird, auf Basis der Reaktionen von Twitter und dessen Nutzern, angenommen, dass ein Sperren der Accounts – also ein Versuch, Dschihadisten von Twitter auszuschließen – die Situation verbessern wird. Hier sind nicht nur die Auswirkungen fraglich, da sich die Dschihadisten so leichter als Opfer inszenieren können und die Möglichkeit der Dschihadisten, ohne Weiteres einen neuen Account anzulegen, besteht, sondern auch die Frage nach einem neutralen Web rückt in den Vordergrund. So sollte laut Tim Berners-Lee das Web und seine Dienste „wie ein weißes Stück Papier sein“, das von niemanden zensuriert, abgeschaltet, blockiert oder Ähnliches werden darf. Diese Regel sollte im besten Fall für alle Personen, also auch Dschihadisten, gültig sein, was wieder moralische Bedenken und Diskussionen mit sich bringt. Besonders oft wird dabei das Argument genannt, dass Dschihadisten selbst gegen Menschenrechte verstoßen und andere sogar dafür anwerben wollen und daher kein Anrecht auf die Benutzung eines neutralen Netzes bzw. eines Dienstes wie Twitter haben. Will man der Idee des neutralen Internets aber zu hundert Prozent gerecht werden, dürfte dieses Argument in dieser Diskussion nicht das Entscheidende sein. Darüber hinaus könnten bei derartigen Aktionen, speziell jenen, die von normalen und eifrigen Twitter-Nutzern organisiert werden, Accounts und Personen falsch beschuldigt oder aufgrund von anderen Charakteristiken wie Religion, Nationalität oder Ähnlichem gesperrt werden, wie es etwa dem Satire-Account @JihadistJoe ergangen ist.
Meiner Meinung nach sollten aufgrund dieser Beobachtungen folgende Fragen diskutiert werden, besonders in Verbindung mit der Idee eines neutralen Webs:
Könnte die Selbstorganisation von Twitter-Usern also auch negative Auswirkungen haben? Treffen die Aktionen immer die Richtigen? Und würde sich die Situation theoretisch verbessern oder verschlechtern, wenn alle Dschihadisten und andere Gruppierungen, die Propaganda betreiben, von Twitter (und anderen sozialen Netzwerken) verbannt werden würden? Was soll passieren, wenn derartige Propaganda auch von offiziellen Stellen wie etwa Regierungen auf Twitter betrieben und verbreitet wird?
Grundsätzlich denke ich, dass Internetnutzer immer die ihnen zur Verfügung stehenden Webdienste und Kommunikationskanäle für sich ausnützen werden, was einmal mehr und einmal weniger schädigend sein kann, je nachdem, welche Ziele verfolgt werden. Daher wäre meines Erachtens eine Sensibilisierung der Nutzer,
Propaganda zu erkennen und eine allgemeine Diskussion anzuregen (siehe Satire- und Regierungs-Accounts gegen Dschihadismus) anstatt verdächtige Accounts entweder in Mainstream-Medien zu verbreiten oder einfach zu zensurieren, ein Vorschlag, dieses Problem anzugehen. Denn ohne Aufmerksamkeit, die auf Social-Media-Kanälen essenziell ist, kann sich die Propaganda nicht weiterverbreiten und ohne Zensur kommt den Dschihadisten auch keine vermeintliche Opferrolle zu, die ausgenützt werden kann.
Quellen:
Amanda Lenhart, Mary Madden: Social Networking Websites and Teens (2007). Pew Research Center
Richard Rogers: Das Ende des Virtuellen — Digitale Methoden (2011). Zeitschrift für Medienwissenschaft, Nr. 2/5.Twitter-Jagd auf den Islamischen Staat (2015). Spektrum der Wissenschaft.
Theo Röhle: Die Demontage der Gatekeeper. Relationale Perspektiven zur Macht der Suchmaschinen (2009). Konrad Becker &
Felix Stalder (Hg.), Deep Search. Politik des Suchens jenseits von Google, Innsbruck (Studien Verlag).Tim Berners-Lee: Long live the web (2010). Scientific American. Seite 85.
Bilduellen:
https://www.flickr.com/photos/tsevis/3405259104/in/album-72157616232374218/
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