Pressefreiheit

Rainer Krottenthaler

Pressefreiheit ist die Freiheit von 200 reichen Leuten, ihre Meinung zu verbreiten.“ Dieses Zitat stammt von dem deutschen Publizisten, Journalisten und Geisteswissenschaftler Paul Sethe (1901-1967). Aus juristischer Sicht ist dabei anzumerken, dass das Gesetz eine „Pressefreiheit“ im engeren Sinne gar nicht kennt. Ein Grundrecht für nur einen einzelnen Berufszweig wäre auch ein Widerspruch in sich, ist doch eine zentrale Säule jedes Grundrechts seine Allgemeingültigkeit. Das Gesetz kennt lediglich die in zahlreichen Rechtsquellen[1] kodifizierte Meinungs- und Informationsfreiheit und die gilt bekanntlich für jedermann und -frau.

Dennoch hat Sethe mit seiner pointierten Aussage nicht ganz Unrecht, denn es stellt einen entscheidenden Unterschied dar, ob man nur das theoretische Recht hat, seine Meinung im privaten Rahmen zu äußern oder ob man auch die faktische Möglichkeit hat, diese einem breiteren Publikum zugänglich zu machen. Wenngleich in diesem Zusammenhang nicht übersehen werden darf, dass jede Botschaft ihren Empfänger erst finden muss, was in Zeiten gestiegener medialer Dichte ein immer schwieriger werdendes Unterfangen darstellt, so gilt auch, dass der Druck einer Zeitung oder die Herstellung eines TV-Beitrags lange Zeit die einzigen Möglichkeiten waren, eine größere Menge von Rezipienten zu erreichen. Aufgrund der damit verbundenen Kosten war dies jedoch de facto einer kleinen finanzkräftigen Minderheit vorbehalten. In steter Sorge um das demokratische Gleichgewicht warnten deshalb schon die Philosophen der Frankfurter Schule vor einer Gleichschaltung der Gesellschaft durch die Diskurs-bestimmenden Massenmedien.[2] Die Frage lautete also: Wer kontrolliert die vierte Gewalt (der Medien)?

Der US-Informatiker Nicholas Negroponte[3] hatte Mitte der 1990er Jahre darauf eine Antwort: die Weisheit der vielen. Negroponte hatte die Vision einer Welt, in der Information demokratisiert wäre. Klassische Medien würden ihre Rolle als „Gatekeeper“ verlieren, in der sie im Alleingang entschieden, was publiziert wird und was nicht. Journalisten könnten sich dann nicht mehr hinter einer „Paywall“ verstecken und Information nur diejenigen zukommen lassen, die dafür auch zahlen. Statt Wahrheits-Monopolisten sollte es für jeden Zugang zu Informationen geben – und zwar immer, überall und kostenlos. Dieser Vision von Negroponte sind wir heute schon sehr nahegekommen. Neben der vierten Gewalt der klassischen Medien hat sich mit Internet und sozialen Medien eine fünfte Gewalt etabliert. Pressefreiheit wurde so vom Privileg von 200 reichen Leuten zur Freiheit von 2 Milliarden Internetnutzern, denn theoretisch hat nun jeder Handybesitzer die Möglichkeit, zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Die so zumindest in Ansätzen entstehende „redaktionelle Gesellschaft“[4] befeuerte Hoffnungen auf eine neue Demokratisierungswelle, die zunächst berechtigt erschienen.[5] Denn auch wenn die sozialen Medien nicht der Auslöser der Iranischen Revolution oder des Arabischen Frühlings waren, so wirkten sie dennoch unbestritten als deren Katalysator.[6]

Doch wo viel Licht ist, ist bekanntlich auch viel Schatten. Da die Pressefreiheit „qualitätsblind“ ist, schützt sie nicht nur „das Wahre, das Edle und das Gute“, sondern auch deren Gegenteile. Fake news, alternative Fakten, Hass und Beleidigungen sind unvermeidliche Nebenwirkungen dieser Freiheit, wobei die Lüge gegenüber der Wahrheit sogar einen entscheidenden Vorteil hat: Internet und soziale Medien bewerten Beiträge nämlich nach ihrer Relevanz und diese wird nicht qualitativ (nach ihrem Inhalt) ermittelt, sondern quantitativ anhand der Anzahl der Reaktionen. Das erscheint zunächst plausibel: was mehr Menschen bewegt, muss offenbar wichtiger sein. Allerdings erfolgt keine Differenzierung, ob eine Reaktion zustimmend oder ablehnend ist. Auch wer stark abgelehnt wird, ist in diesem Sinne relevant, was Fake news, Provokation und Übertreibung begünstigt.[7]

Darüber hinaus stellen Internet und soziale Medien auch eine Herausforderung für unsere Demokratie dar, indem sie die öffentliche Meinung als deren Fundament fragmentieren. Es darf nicht übersehen werden, dass sich das demokratische Ideal nicht ausschließlich durch die Beteiligung an einer politischen Wahl erfüllt, sondern auch und insbesondere durch den der Wahl vorausgehenden gesellschaftliche Diskurs über gemeinsame Themen. Big-Data und Mikrotargeting erschweren dies jedoch durch eine individualisierte (und zudem flüchtige) Ansprache jedes einzelnen Rezipienten.[8] Im großen Stil wurde Microtargeting im Rahmen des US-Präsidentschaftswahlkampfes 2016 eingesetzt.[9] Das Datenanalyseunternehmen Cambridge Analytica kaufte dazu Daten aus unterschiedlichen Quellen wie Bonuskartensystemen, Clubmitgliedschaften, Zeitschriftenabonnements, usw. ein, was in den USA aufgrund einer vergleichsweise liberalen Gesetzgebung in puncto Datenschutz leicht möglich ist und matchte diese mit Facebook-Daten. Darauf aufbauend wurden Persönlichkeitsprofile („social profiling“) erstellt, wobei man auf drei Kerngruppen fokussierte, die tendenziell dem demokratischen Lager zuzuordnen sind. Wähler von Bernie Sanders erhielten Infos über Hillary Clintons Verbindung zur Finanzwelt, jungen Frauen wurden die sexuellen Eskapaden von Bill Clinton in Erinnerung gerufen während Afroamerikaner mit Aussagen einer Rede von Hillary Clinton aus dem Jahr 1996 konfrontiert wurden, in der sie sich abfällig über schwarze Kriminelle geäußert hat. Wenngleich die Rolle von Cambridge Analytica im Nachhinein von mehreren Seiten künstlich hochgespielt wurde (vor allem von Cambridge Analytica selbst) und demnach deren Bedeutung nicht überbewertet werden darf, so gilt die Kampagne dennoch als die bislang erfolgreichste Maßnahme zur strategischen Wahlunterdrückung.

Diese Form des politischen Geschäfts wird auch als „dog whistle politics“ bezeichnet, weil – gemäß dem Grundsatz „Ich sehe was das du nicht siehst“ – die Botschaft nur derjenige erhält, für den sie bestimmt ist. Aus Sicht des Politikers hat dies einen doppelten Vorteil. Zum einen kann die Botschaft individuell auf den Rezipienten abgestimmt werden, was allfällige Streuverluste vermeidet. Zum anderen werden Journalisten der Möglichkeit beraubt, ihrer Rolle als vierte Gewalt nachzukommen und Unwahrheiten oder Widersprüche aufzudecken. Jeder Wähler erhält seine individualisierte Wahrheit, was zu den bekannten Filterblasen- und Echokammer-Effekten führt und einen öffentlichen Diskurs verunmöglicht.

Dem Fernsehen wurde oftmals vorgeworfen, aus dem Kreis der Familie einen Halbkreis gemacht zu haben. Internet und Social Media haben aus diesem Halbkreis eine lose Ansammlung von Punkten gemacht. Vor diesem Hintergrund ist Pressefreiheit heute nicht nur die Freiheit von zwei Milliarden Internetnutzern, ihre Meinung zu äußern. Die technischen Möglichkeiten erlauben es darüber hinaus, diese Meinung auch individuell auf den jeweiligen Rezipienten abzustimmen.

Auch wenn dies für unsere Gesellschaft auf mehreren Ebenen eine enorme Belastungsprobe darstellt, bleibt neben aller Sorge um die liberale Demokratie auch Grund zu Hoffnung. In den 1970er Jahren entstand als Antwort auf sauren Regen, Waldsterben und Atommüll die Umweltbewegung. Vielleicht befinden wir uns gerade in einer ähnlichen Phase. Vielleicht wird 2020 nicht nur als Corona-Jahr in Erinnerung bleiben, sondern auch als das Jahr, in dem als Antwort auf die „Infodemie“[10] ein neuer aufklärerischer Geist entstand, der Demokratie nicht als Selbstverständlichkeit versteht, sondern als einen Wert, der täglich neu erkämpft werden muss.

 

[1] Art. 19 AEMR, Art. 10 EMRK, Art. 13 StGG

[2] Max Horkheimer, Theodor W. Adorno (1944) in Dialektik der Aufklärung

[3] Nicholas Negroponte (geb. 1943) ist US-Informatiker und Professor am MIT. Er veröffentlichte 1997 seine Visionen im Buch „Total digital. Die Welt zwischen 0 und 1 oder die Zukunft der Kommunikation“

[4] Der Begriff geht auf den Journalismus-Forscher John Hartley zurück, der ihn schon im Jahr 2000 geprägt hat.

[5] Die Entwicklung neuer Medien war stets auch begleitet von gesellschaftlichen Utopien, vgl. „Radiotheorie“ (1927-1932) von Berthold Brecht oder der „Baukasten zu einer Theorie der Medien“ (1970) von Hans Magnus Enzensberger.

[6] Christian Humborg et a. (2018): Die publizistische Gesellschaft: Journalismus und Medien im Zeitalter des Plattformkapitalismus

[7] Für nähere Infos siehe u.a.: Patrick Gensing (2019): Fakten gegen Fake News oder Der Kampf um die Demokratie, Romy Jaster und David Lanius (2019): Die Wahrheit schafft sich ab: Wie Fake News Politik machen, Katharina Nocun und Pia Lamberty (2020): Fake Facts: Wie Verschwörungstheorien unser Denken bestimmen

[8] Für nähere Infos siehe u.a.: Stephan Russ-Mohl (2017): Die informierte Gesellschaft und ihre Feinde: Warum die Digitalisierung unsere Demokratie gefährdet, Aleksandra Sowa (2017): Digital Politics: So verändert das Netz die Demokratie. 10 Wege aus der digitalen Unmündigkeit, Roger McNamee (2019): Die Facebook-Gefahr: Wie Mark Zuckerbergs Schöpfung die Demokratie bedroht, Adrienne Fichter (2017): Smartphone-Demokratie

[9] Nähere Infos zu Microtargeting, Big-Data und Cambridge Analytica siehe: Cathy O’Neil (2017): Weapons of Math Destruction: How Big Data Increases Inequality and Threatens Democracy, Christopher Wylie (2019): Mindf*ck: Cambridge Analytica and the Plot to Break America, Brittany Kaiser (2019): Targeted,

[10] Der Ausdruck „Infodemie“ wurde ursprünglich vom Generaldirektor der WHO, Dr. Tedros Adhanom Ghebreyesus, im Zusammenhang mit COVID-19 geprägt.

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